Am 26.07.2011 hat das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur Baden-Württemberg den Anhörungsentwurf für das S 21-Kündigungsgesetz freigegeben. PRO BAHN Baden-Württemberg hat hierzu folgende Stellungnahme abgegeben:
Wir danken der Landesregierung für die Möglichkeit, zum Gesetzentwurf Stellung nehmen zu können.
Die verkehrspolitischen Überlegungen der Landesregierung teilt PRO BAHN Baden-Württemberg. In der Gesetzesbegründung sind alle wesentlichen Argumente genannt. Allerdings weisen wir nachdrücklich daraufhin, dass der Gesetzgeber auch die weiteren Folgen seiner Entscheidung zu berücksichtigen hat. Dies betrifft vor allem den Zusammenhang von Stuttgart 21 und der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm. Nach Einschätzung von PRO BAHN Baden-Württemberg sollte der Fokus noch mehr auf eine rasche Realisierung der Neubaustrecke gelegt werden (nachfolgend Ziff. 3).
PRO BAHN erlaubt sich, einige rechtliche Argumente für das Gesetz vorzutragen. Wir halten es für richtig, dass der Landesgesetzgeber seiner Beobachtungspflicht nachkommt. Daher begrüßt PRO BAHN Baden-Württemberg den Gesetzentwurf. Die in der Öffentlichkeit verbreiteten rechtlichen Bedenken teilt PRO BAHN Baden-Württemberg nicht (nachfolgend Ziff. 4).
PRO BAHN Baden-Württemberg regt aber an, den Gesetzestext zu erweitern und auch von Rücktrittsrechten statt nur von Kündigungsrechten zu sprechen (nachfolgend Ziff. 5).
PRO BAHN Baden-Württemberg dankt der Landesregierung für die umfassende Darstellung der verkehrspolitischen Überlegungen zu Stuttgart 21. Diesen kann PRO BAHN Baden-Württemberg weitgehend zustimmen.
Bei allen weiteren Überlegungen bittet PRO BAHN den Gesetzgeber und die Landesregierung, die rasche Realisierung der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm im Auge zu behalten. Mag bundesweit der Ausbau der Strecke Karlsruhe–Basel vordringlicher sein, ist landesverkehrspolitisch die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm aus Sicht von PRO BAHN Baden-Württemberg prioritär.
PRO BAHN Baden-Württemberg bittet daher die Landespolitik, sich auf Bundesebene für eine auskömmliche Finanzierung von Schieneninfrastrukturprojekten einzusetzen. Dies erfordert eine Umschichtung zu Lasten von Straßenbauprojekten wie auch Überlegungen zu einer PKW-Maut.
PRO BAHN Baden-Württemberg betont, dass grundsätzlich keine Einwände gegen den Neubau von Bahnhöfen oder Bahnstrecken bestehen. Satzungszweck von PRO BAHN ist es gerade, die Interessen von Fahrgästen des Öffentlichen Verkehrs zu vertreten. Neue Infrastruktur dient in aller Regel den Interessen der Fahrgäste. Aus diesem Grund hat der Regionalverband Stuttgart von PRO BAHN im Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 auch immer für die Neubaustrecke votiert.
Auch ein Durchgangsbahnhof ist per se nicht zu kritisieren. PRO BAHN beurteilt das Konzept von Stuttgart 21 ausschließlich vor der Fragestellung, ob der unterirdische Durchgangsbahnhof den Fahrgästen Vorteile bringt. Zu Recht weist der Gesetzentwurf auf einige Vorteile von Stuttgart 21 hin. PRO BAHN schließt sich der im Gesetzentwurf getroffenen Abwägung jedoch an, wonach die verkehrlichen Nachteile von Stuttgart 21 dessen verkehrlichen Vorteile überlagern.
Fragen der Stadtentwicklung oder spezifisch ökologische Fragen sind von PRO BAHN entsprechend der Verbandssatzung nicht zu bewerten.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass PRO BAHN das Konzept „K 21“ mit entwickelt hat. Dieses Konzept belegt, dass die Neubaustrecke an einen Kopfbahnhof angeschlossen werden kann. Nicht zu verleugnen sind dabei auch Nachteile, so zum Beispiel der Streckenausbau im Bereich Obertürkheim und Esslingen. In der Gesamtabwägung überwiegen jedoch die Vorteile des Konzepts. Deshalb sei an dieser Stelle ausdrücklich auf die Pläne von K 21 im Einzelnen verwiesen, deren Darstellung den Rahmen einer Gesetzesanhörung sprengen würden.
PRO BAHN hat bereits erklärt, dass auch der kombinierte Tief- und Kopfbahnhof („Geißlervorschlag“) im Interesse der Fahrgäste eine gute Lösung sein könnte.
PRO BAHN ist sich bewusst, dass jeder Ausbau von Infrastruktur für die Bahn Bürgerinteressen tangiert. Deshalb plädiert PRO BAHN nicht für einen bedingungslosen Ausbau. Solch ein Vorgehen würde Bürgerproteste provozieren, damit sinnvolle Bauprojekte verhindern und im Ergebnis nötige Infrastrukturmaßnahmen verzögern. Es ist deshalb im Interesse von PRO BAHN, dass bei der Planung von Schienenprojekten die Bevölkerung frühzeitig einbezogen wird. Ferner fordert PRO BAHN, dass im Bundeshaushalt der Anteil der Schiene massiv erhöht wird. Nur so sind alle nötigen Ausbaumaßnahmen zu finanzieren, ohne dass einzelne Projekte wie in Baden-Württemberg gegeneinander ausgespielt werden. Ferner braucht es mehr Mittel, um die nötigen Lärmschutzmaßnahmen zu ermöglichen und damit Baumaßnahmen sozialverträglich zu gestalten.
Bei der Vorstellung des Gesetzentwurfs sind massive Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Gesetzes erhoben worden. PRO BAHN Baden-Württemberg geht davon aus, dass die Gerichte über das Gesetz entscheiden müssen. Es steht einem Fahrgastverband nicht zu, sich abschließend zu solch heiklen rechtlichen Fragen zu äußern. Wir wollen deshalb lediglich einige Argumente vortragen, die in der weiteren Diskussion für die Rechtmäßigkeit des Gesetzes sprechen können.
Das Bundesverfassungsgericht hat in zahlreichen Entscheidungen den Gesetzgeber verpflichtet, einmal getroffene Entscheidungen weiter im Auge zu behalten (BVerfG, Urteil vom 10. Juni 2009, Az. 1 BvR 706/08, in NJW 2009, 2033 ff.). PRO BAHN Baden-Württemberg hält es daher für geboten, dass der Gesetzgeber auch auf die geänderten Rahmenbedingungen beim Projekt Stuttgart 21 reagiert.
Fraglich ist allerdings, ob allein die geänderte Zusammensetzung eines Parlaments oder die Vermutungen zu Kostensteigerungen es rechtfertigen, gesetzlich zu handeln. Diese Grundlagen könnten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht ausreichend sein für gesetzliches Handeln. Entscheidend ist, ob Gefahren für das Gemeinwohl drohen und der Gesetzgeber deshalb tätig werden muss.
Dabei kommt es darauf an, wie konkret diese Gefahr sein muss. Maßgeblich ist nach der Definition des allgemeinen Gefahrenrechts die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für die Rechtsordnung oder individuelle Rechtsgüter.
Bei Stuttgart 21 kann der Gesetzgeber zu dem Schluss kommen, dass die Kosten bei dem Projekt nicht mehr beherrschbar sein werden und somit der Staatshaushalt übermäßig belastet wird. Die Haushaltsstabilität stellt ein anerkanntes Rechtsgut des Gemeinwohles dar. Entscheidend ist folglich die Prognose eines Schadenseintritts. Sicher lässt sich nicht vorhersagen, ob die Haushaltsbelastungen beim Bau von Stuttgart 21 eintreten werden. Bei der Prognoseentscheidung kann der Gesetzgeber aber auf allgemeine Erfahrungssätze zurückgreifen. Es ist allgemein bekannt, dass bei großen Bauprojekten Kostensteigerungen nicht zu vermeiden sind. Der Gesetzgeber kann insofern auf ein sehr fundiertes Erfahrungswissen aufgrund von Bauprojekten des Landes zurückgreifen.
Die Beobachtungspflicht rechtfertigt daher ein Einschreiten des Landesgesetzgebers. Die Prognose erhöhter Kosten ist ab S. 12 ff. detailliert und schlüssig dargelegt.
Fraglich ist, ob der Gesetzentwurf gegen Verfassungsrecht (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG) verstößt, da es sich um einen Einzelfall, nämlich das Projekt Stuttgart 21, handelt.
Voraussetzung des Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG ist es, dass das Gesetz den Schutzbereich eines Grundrechts tangiert. Das dürfte vorliegend der Fall sein. Tangiert ist die Wirtschaftsfreiheit der DB AG (Art. 2 Abs. 1, 12, 14 GG).
Gleichwohl ist das Verbot von Einzelfallgesetzen nicht uferlos. Auch einzelne behördliche Entscheidungen greifen in den Schutzbereich, zum Beispiel von Eigentumsrechten, ein. Das BVerfG handhabt daher das Verbot von Einzelfallgesetzen sehr restriktiv. Entscheidend ist daher, ob ein Grundrecht über die in ihm selbst angelegten Schranken hinaus eingeschränkt wird (BVerfG in NJW 1970, 1268). Maßgeblich ist daher, ob das Gesetz die Eingliederung des Grundrechtsträgers in die Allgemeine Rechtsordnung vorsieht.
Auf dieser Stufe bewegt sich der hier vorliegende Gesetzentwurf. Die DB AG muss bereits innerhalb der Allgemeinen Rechtsordnung jederzeit damit rechnen, dass sich ein Vertragspartner vom Vertrag lösen will. Das sind zivilrechtliche Fragen, die vor ordentlichen Gerichten geklärt werden können. Keinen Verfassungsrang hat die Frage, ob ein Vertrag gekündigt wird oder nicht.
Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG betrifft jedoch die Frage, ob ein Eingriff in Grundrechte verfassungsrechtlich zulässig ist. Geht man einen Schritt zurück und prüft, ob überhaupt ein Eingriff vorliegt, muss auf die Rechtswirkungen des vorliegenden Gesetzes abgestellt werden. Adressat des Gesetzes ist die Landesregierung. Die DB AG ist nur mittelbar betroffen. Dieser Rechtsreflex begründet noch gar keinen Grundrechtseingriff, so dass es auf die Frage, ob ein Einzelfallgesetz vorliegt, letztlich nicht ankommen kann.
Hervorzuheben ist dabei, dass der Gesetzentwurf noch nicht einmal die Kündigungsrechte näher spezifiziert. Der Wortlaut des Gesetzentwurfs setzt lediglich voraus, dass im Falle bestehender Kündigungsrechte diese auch ausgeübt werden. Der Landesgesetzgeber engt damit das Ermessen des Regierungshandelns ein, was noch keine direkten Auswirkungen auf den Grundrechtsträger DB AG, geschweige denn die Stadt Stuttgart und deren Recht auf kommunale Selbstverwaltung, hat.
Der Gesetzentwurf verweist in seiner Begründung auf Demonstrationen und eine geänderte Zusammensetzung des Landtags (S. 5). Beides tangiert das Demokratieprinzip im Rechtssinne nicht, allenfalls im politologischen Sinne. Entscheidend ist nach dem Demokratieprinzip, dass eine ununterbrochene Legitimationskette zwischen dem Volk und den Entscheidungsträgern besteht. Fragen des Demokratieprinzips sind nach Einschätzung von PRO BAHN Baden-Württemberg für den vorliegenden Gesetzentwurf daher irrelevant.
Der Gesetzentwurf spezifiziert das Kündigungsrecht oder die Kündigungsrechte nicht näher (vgl. die knappen Ausführungen im Besonderen Teil). Würde der Gesetzgeber die Exekutive insofern binden, als er etwas Unmögliches verlangt, könnte das Gesetz unverhältnismäßig, da ungeeignet zur Zweckerreichung sein. Auch dann wäre das Gesetz wegen eines Verstoßes gegen das Rechtsstaatsgebot rechtswidrig.
Nach Kenntnis von PRO BAHN Baden-Württemberg sehen die Verträge zu Stuttgart 21 kein ordentliches Kündigungsrecht, sondern nur eine sogenannte Sprechklausel vor. Denkbar ist aber, dass ein außerordentliches Kündigungsrecht, das rechtswirksam nicht ausgeschlossen werden kann, besteht. Der Gesetzentwurf differenziert nicht zwischen den Arten einer Kündigung, so dass der Gesetzentwurf jedenfalls nichts rechtlich Unmögliches verlangt.
Ansatz für eine außerordentliche Kündigung könnte ein völlig zerrüttetes Vertrauensverhältnis zwischen den Vertragspartnern sein. Ob dies der Fall ist, vermag PRO BAHN Baden-Württemberg nicht zu bewerten. Entscheidend ist auch nur, ob ein Kündigungsrecht bestehen könnte. Das ist der Fall, deshalb ist der Gesetzentwurf auch umsetzbar. PRO BAHN Baden-Württemberg hat daher keine Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Gesetzentwurfs.
Im Übrigen geht PRO BAHN Baden-Württemberg davon aus, dass ein ordentliches Kündigungsrecht nicht ausgeschlossen ist. Die Sprechklausel gebietet lediglich, dass vor Abgabe der Kündigungserklärung verhandelt wird. Gleichwohl bleibt zunächst fraglich, welche Folgen die im Gesetzentwurf beschriebenen Kostensteigerungen konkret haben könnten. Denkbar ist, dass das Land als Vertragspartner davon nicht belastet wird, sollten die anderen Vertragspartner die Kosten vollständig übernehmen. Solch eine verbindliche Zusage liegt nach Kenntnis von PRO BAHN Baden-Württemberg aber gerade nicht vor. Deshalb muss die Landesregierung als einer der Vertragspartner davon ausgehen, nach den Grundsätzen des bürgerlichen Rechts an allfälligen Kostensteigerungen beteiligt zu werden. Dem privaten Baurecht immanent sind die Regeln zu den sogenannten Nachträgen, die letztlich auf dem Grundsatz der Geschäftsführung ohne Auftrag beruhen. Solchen Forderungen könnte sich das Land, zumal möglicherweise gem. § 421 BGB gesamtschuldnerisch haftend, nicht entziehen. Deshalb steht dem Land ein ordentliches Kündigungsrecht zu, sollten Kostensteigerungen die Vertragsgrundlage verändern.
Wir bitten um Prüfung, ob das Gesetz nicht um die Ausübung von Rücktrittsrechten erweitert werden könnte. Damit könnte die Landesregierung flexibler reagieren. Es bestünde ein klarer Rahmen, um zum Beispiel den Vorschlag des Schlichters, Herrn Dr. Geißler, vom 29. Juli 2011 umzusetzen. PRO BAHN hat bereits erklärt, dass der kombinierte Tief- und Kopfbahnhof im Interesse der Fahrgäste sein könnte.
So ergibt sich bei grundlegend geänderten Vertragsbedingungen das Kündigungsrecht auch aus § 313 BGB. Diese Norm spricht von einem Rücktrittsrecht. Nur bei Dauerschuldverhältnissen ist von einem Kündigungsrecht die Rede. Vorliegend dürfte kein Dauerschuldverhältnis vorliegen, da der Werkvertragscharakter überwiegt.
Der Gesetzentwurf ist nach Einschätzung von PRO BAHN Baden-Württemberg an dieser Stelle jedenfalls zu eng auf das Kündigungsrecht fixiert. Rechtlich der sicherere Weg wäre es, auch ein Rücktrittsrecht aufzunehmen. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass ein Rücktrittsrecht wesentlich weiter ist und zum Beispiel durch fruchtlose Fristsetzungen eines Vertragspartners geschaffen werden kann (vgl. § 323 BGB).
Vor allem wegen des Vorschlags aus der Schlichtung von Dr. Geißler ist eine Erweiterung des Gesetzestextes geboten. Der Gesetzestext orientiert sich bisher stark an möglichen Kostensteigerungen. Aus Sicht von PRO BAHN sollte der Gesetzestext jedoch auf den Vorschlag eines kombinierten Tief- und Kopfbahnhofes reagieren. Eine geänderte Geschäftsgrundlage erlaubt als schwächere Form des Rücktritts auch die Vertragsanpassung. Mit dem neuen Vorschlag könnte solch eine geänderte Geschäftsgrundlage vorliegen. Im Interesse von PRO BAHN als Vertreter der Fahrgäste ist es deshalb, möglichst schnell und im Einvernehmen aller Beteiligten zu einer Lösung zu kommen. Jede Verzögerung bei S 21 verzögert aller Voraussicht nach den Bau und den Nutzen der Neubaustrecke. Die Neubaustrecke, nicht der Bahnhof in Stuttgart, ist aus Sicht von PRO BAHN elementar für das ganze Land und damit für das Gemeinwohl.
03.08.2011
letzte Aktualisierung: 11/2024