Das derzeitige Elend mit dem ICE-T, der in Baden-Württemberg auf der Strecke Stuttgart-Zürich (Gäubahn) unterwegs ist, sollte auch als Chance gesehen werden. Ein vergleichbares Desaster mit den VT-611-Zügen vor zwei Jahren führte nämlich zu erfolgreichen Änderungen des betroffenen Fahrplankonzepts.
Nach aktuellen Informationen bleibt die aktive Neigetechnik in den ICE-T-Zügen der Deutschen Bahn mindestens bis Mai nächsten Jahres abgeschaltet. Bei einem so langen Zeitraum kann sich die DB nicht einfach so durchmogeln, sondern muss stabile Ersatzlösungen schaffen.
Das große Problem auf der Gäubahn ist, dass man mit den drei Fahrzeugen, die derzeit zwischen Zürich und Stuttgart pendeln, mit verlängerten Fahrzeiten nicht mehr hinkommt. "Der Fahrplan auf dieser Strecke ist eine recht filigrane Konstruktion", so Stefan Buhl, Vorsitzender des PRO-BAHN-Landesverbands Baden-Württemberg. In Zürich und Stuttgart müssen die Züge fast minutengenau in den engen Takt der S-Bahnen eingepasst werden; unterwegs müssen Anschlüsse erreicht und wegen der Eingleisigkeit auf weiten Teilen auch Gegenzüge berücksichtigt werden. Erreichen die Züge aus Zürich nur wenige Minuten zu spät Herrenberg, verzögert sich die Ankunft in Stuttgart regelmäßig fast um eine Viertelstunde, weil die S-Bahn das Gleis belegt. Entsprechendes gilt für die Gegenrichtung.
Erfreulich oft gelingt es den Lokführern, auch ohne Neigetechnik den Fahrplan weitestgehend einzuhalten und die meisten Anschlüsse zu erreichen. Verlässlich ist das aber nicht, weil dazu alles, was der Fahrplan an Reserven hergibt, ausgenutzt wird.
Zur Stabilisierung des Fahrplans soll zukünftig möglichst ein zusätzlicher ICE in Stuttgart bereitgestellt werden. Damit können verspätete Kurzwenden (dann hat der aus Zürich kommende ICE nur wenige Minuten Zeit, um am selben Gleis zur Rückfahrt zu starten) übersprungen werden, um mit dem Gegenzug pünktlich abfahren zu können. "Wenn das so funktioniert, ist aus unserer Sicht schon viel gewonnen", so Buhl. "Besonders die regelmäßigen Anschlussverluste in Rottweil Richtung Villingen/Donaueschingen/Neustadt haben schon zu deutlichen Fahrgastabwanderungen geführt." Dieser Anschluss soll zukünftig auch abgewartet werden, wenn es sich noch irgendwie vertreten lässt.
Die Probleme mit den ICE-Achsen lassen ein grundlegendes Problem im Fernverkehr der Deutschen Bahn deutlich werden: Die Reservekapazitäten sind viel zu gering oder oft gar nicht vorhanden. Auf der Gäubahnstrecke führt dies sogar dazu, dass ein Ersatzfahrplan, der die verlängerten Fahrzeiten durch den Ausfall der Neigetechnik berücksichtigt, nicht aufgestellt werden kann. Mit einem realistischen gerechneten Fahrplan würde eine weitere Fahrzeuggarnitur benötigt, weil die sogenannte Kurzwende in Stuttgart (Ankunft zur Minute 56, Abfahrt in die Gegenrichtung zur Minute 04) ohne Neigetechnik nicht zuverlässig durchführbar ist.
Um börsenfähig zu werden und den Unternehmenswert zu steigern, ist die Bahn zu hoher Effizienz gezwungen. "Offensichtlich ist man über das Ziel hinausgeschossen", so Buhl. "Für die Probleme an den Achsen kann man nach derzeitigem Kenntnisstand wohl niemanden direkt verantwortlich machen. Die übertrieben knappe Bemessung der Kapazitäten macht die Lage nun aber schlimmer, als es bei einem moderaten Sparkurs gewesen wäre." Den Unternehmenswert steigern die Einschränkungen im ICE-Verkehr so nun nicht gerade.
Die Gäubahn leidet zum Einen unter einem für den Fernverkehr außergewöhnlich kurzen Laufweg, der viele Reisende zum ungeliebten Umsteigen zwingt. Zum Anderen sind die Züge geographisch von ihrer Werkstatt in Frankfurt abgeschnitten. Planmäßig kommt jeder Zug alle drei Tage für jeweils drei Stunden in die Werkstatt, was für größere Wartungen zu knapp bemessen ist. Außerplanmäßige Wartungsarbeiten sind nur mit großem Aufwand und der Gefahr von Zugausfällen auf der Gäubahn möglich.
Kurzfristig muss sichergestellt sein, dass durch Vorhalten eines neigetechnikfähigen Zugs das Angebot zuverlässig gefahren werden kann.
Mittelfristig müssen weitere Fahrzeuge mit Schweizer Ausrüstung ausgestattet werden, um Durchbindungen in weitere Linien zu schaffen. Eine Weiterführung über Stuttgart hinaus nach Frankfurt oder Nürnberg könnte die Linie nach Überzeugung des Fahrgastverbands PRO BAHN deutlich aufwerten und mit besserer Auslastung wieder wirtschaftlicher machen.
PRO BAHN sieht die Krise auch als Chance. Die Bereitstellung eines vierten ICE-Ts zur Überspringung verspäteter Kurzwenden kann den Fahrplan spürbar verbessern und helfen, abgewanderte Kunden wiederzugewinnen. Diese Maßnahme sollte unbedingt dauerhaft beibehalten werden, auch, um mehr Zeit für Wartungsarbeiten zu gewinnen.
Weiterhin bietet sich die Gelegenheit, den Laufweg des ICEs zu überdenken. Durchbindungen nach Frankfurt oder Nürnberg machen den Zug auch für die vielen Menschen attraktiv, die sich vor Umsteigevorgängen scheuen.
Auf der IRE-Linie Basel-Friedrichshafen-Ulm/Lindau wurde die Linienführung nach einem längerfristigen Ausfall der Neigetechnik so erfolgreich geändert, dass das neue Konzept auch heute noch, nach Wiederinbetriebnahme der Neigetechnik, zum allseitigen Vorteil beibehalten wurde. Dort haben sich die vorübergehende Einschränkungen letztlich als segensreich erwiesen. Vielleicht gelingt Ähnliches mit dem Fernverkehr auf der Gäubahn, um diesem zu neuer Blüte zu verhelfen.
Kontakt: Stefan Buhl, Vorsitzender PRO BAHN Baden-Württemberg, Tel. 0170/3077110
letzte Aktualisierung: 11/2024